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  • AutorenbildMonalitha

Die Zerrissene Welt

Staunend wie schon damals mit Kinderaugen betrachte ich das imposante Gebäude, dass seit Hunderten von Jahren hier schon steht. Schon als ich das erste Mal hier war, konnte ich nicht verstehen, warum die Passanten einfach hier vorbeigingen, ohne die Farbe des Gebäudes – rosa, wie ein kleines Schweinchen – die Mosaiksteinchen auf dem Dach und die Stuckornamente an den Giebeln zu betrachten.

In der Schule habe ich gelernt, dass diese Art der Fassade typisch für den Rokoko im 18. Jahrhundert gewesen war. Im Gegensatz zu meinen Mitschülern war ich von der Kunstgeschichte sehr fasziniert gewesen. Ich fand alles spannend. Von der Gotik angefangen – mit ihren fabelhaft ausgedachten System der Fialen und Außensäulen, die eine Kathedrale stützten – über den pompösen Barock, dem monumentalen Säulen und Tempeln des Klassizismus im Stile der Antike – bis hin zur heutigen Bauweise in der Architektur.

Man könnte meinen, dass ein 10-jähriges Flüchtlingsmädchen, welches aus einem der schlimmsten Kriegsgebiete der Welt stammt, andere Gedanken, Sorgen und Ängste hat. Natürlich hatte ich die – schließlich musste ich ein Teil meiner Familie zurücklassen. Von meiner Heimat und der fremden Sprache mal ganz abgesehen. Aber gerade deshalb fand ich Trost in der Geschichte der Europäischen Kultur, weil sie mir beständig schien. Beständiger jedenfalls als mein eigenes Leben und das meiner Heimat. Außerdem musste ich irgendwie zusehen, wie die Fremde hier meine Heimat werden konnte, um in Frieden leben zu können.

Wenn ich diese Rokoko Wand näher in Augenschein nehme, zeigen sich hier und da bereits Risse im Mauerwerk, die sich teilweise bis nach oben ziehen. So, dass sie sich nicht mehr in meinem Blickfeld befindet. Es freut mich hier und da Risse zu sehen, denn ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dass die deutschen Risse im Mauerwerk nicht gerne sehen. Sie wollen immer, dass alles wie geleckt aussieht, ohne Makel und nutzen jede Gelegenheit alte Fassaden neu zu streichen.

Doch Mauern so ganz ohne Risse, Spalten und Vertiefungen, empfinde ich als sehr langweilig. Sie gehören einfach dazu, wie die Haut zum Menschen.

Denn die ist auch nicht makellos. Dort finden sich Narben, Falten oder einfach nur normale Veränderungen der Vergänglichkeit.

Vielleicht hängt das mit ihrer Geschichte zusammen. Von ihren Kriegen der Vergangenheit. Besonders der zweite Weltkrieg hatte durch die Zerstörung der Städte und die Macht im dritten Reich der Nazis, tiefe Risse in der Menschlichkeit hinterlassen, die erst mit der Zeit wieder geheilt werden können. Jeder erinnert sich heute daran und fragt sich wie das nur passieren konnte.

Das frage ich mich tatsächlich auch in Bezug auf den Krieg in meiner Heimat, doch da ist niemand, der diese Frage stellen kann. Es geht einfach immer so weiter mit der Gewalt und die Menschheit wird zerrissen.


Im Grunde ist es nicht nur Respekt vor der Baukunst, die mich vor lauter Ehrfurcht sogar manchmal nicht mehr atmen lässt. Vor allem ist es für mich die Tatsache, dass es solche Gebäude für immer gibt. Das Gefühl an etwas buchstäblich festhalten zu können, was mir sonst aus den Armen gerissen werden würde. Das sehe ich darin.

Aber tief in mir drinnen weiß ich natürlich, dass auch etwas aus massivem Stein und anderem festen Material nicht für die Ewigkeit gedacht war. Erst recht nicht, wenn es feindlichen Angriffen von außen ausgesetzt wird.

Auch wenn es diesen Begriff „In Stein gemeißelt“ gibt, so kann auch die eingemeißelte Botschaft darin im Laufe der Zeit verloren gehen.

In Syrien hatte es auch mächtige, beeindruckende Gebäude gegeben. Meist waren es göttliche Orte gewesen – Moscheen, Tempel und manchmal Paläste. Ich muss – glaube ich – keine weiteren Worte finden.

Jeder weiß normalerweise etwas mit dem Begriff der Orientalischen Baukunst etwas anzufangen. Aber auch wenn ich noch ein wenig Erinnerung an diese Stadt habe, fühlt es sich doch meist eher an, wie ein Puzzle, dass sich nicht mehr richtig zusammensetzen lässt. Ich weiß nur, dass Risse, ob nun in zerfallenen Mauerresten oder woanders, schon immer in meinem Leben vorhanden war.

„Na, schon nervös?“ Meine beste Freundin holt mich aus meinen Gedanken. Sie ist über den großen Platz auf mich zu gestapft, an dem wir uns treffen wollten. Ich begrüße sie und wir setzen uns gemeinsam auf den Rand eines nahegelegenen Brunnes. Den Brunnen ziert eine Steinfigur mit einem etwas verklären Lächeln und einer seltsamen Haltung. Selbst diese Figur hat Risse im Stein. Sie sehen mehr aus wie Linien – ein einfaches Muster. Es sieht so aus, als hätte es jemand extra auf den Arm der Figur gemalt.

„Ja, nervös bin ich tatsächlich. Es ist schließlich nicht alle Tage so, dass ich vor so vielen Menschen über mich und meine Ideen sprechen darf.“ Beantwortete ich die Frage von Julia. Sie nickte verständnisvoll und ich hänge während des Wartens wieder meinen Gedanken nach.

Letzten Sommer durfte ich ein längeres Praktikum in einem großen Architekturbüro absolvieren. Wie ihr sicher beim Lesen sicher schon gemerkt habt, habe ich eine nicht unerhebliche Leidenschaft für Architektur. Die hatte ich immer schon. Vielleicht wurde sie mir in die Wiege gelegt. Mein Vater war nämlich ein sehr bekannter Baumeister in Syrien und hat in Aleppo – Jahrzehnte vor der Zerstörung der Stadt – Architektur studiert.

In dieser Zeit meines Praktikums hatte das Architekturbüro nun einen

Wettbewerb laufen für eine Moschee, die nach Plänen einer früheren Moschee neu gebaut werden sollte.

Es war nicht klar gewesen, welches Büro gewinnt, doch schließlich hat das gewonnen, in welches ich in meiner Praktikumszeit gearbeitet hatte.

Ich war Feuer und Flamme für das Projekt gewesen und sie haben mir die Chance gegeben, ein eigenes Modell und Grundriss des Gebäudes zu bauen und meine Ideen zum Gesamtwerk einfließen zu lassen. Hauptsächlich bekam ich deshalb die Gelegenheit für meine Ideen, da ich aus der Ecke der Welt stamme, an dem es viele Moscheen gibt. Dort ist letzten Endes der Islam eine der Hauptreligion. Dieser Orientalische Einfluss, der mir vertraut war, hatte es der Planung leichter gemacht.

Dazu muss ich noch erwähnen, dass ich nicht die Einzige aus dem Orient war, welche an diesem Projekt beteiligt sein durfte. Es ist zum Ende hin immer noch ein bedeutsames Projekt in einem bedeutsamen Büro, die ein gewissen Ruf vertreten muss. Gerade deshalb war es eine Ehre für mich, daran mitarbeiten zu können – und dabei wieder ein Stück Heimatgefühl erleben zu dürfen.

Fast ein Jahr später ist es nun endlich soweit. Ich darf ich meine Pläne, das Modell und mein Grundriss in einem kleinen Komitee des Stadtrates vorstellen, um sie davon zu überzeugen, Teile meiner Vorstellungen des zukünftigen Gebäudes in die Planung mit einfließen zu lassen.

Das ist wichtig, weil ich noch keine Architekturstudentin bin und damit keine Architektin. Sie wollen also in etwa einer halben Stunde prüfen, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin.

Normalerweise hätte das Gespräch schon Anfang des Jahres stattfinden sollen, doch wegen eines Virus aus Asien, welches die Menschen auf der ganzen Welt und seit Februar auch Deutschland in Griff hält, hat es sich immer und immer wieder auf unbestimmt Zeit verschoben.

Hier war er also wieder: der Riss, der sich wie ein Faden durch mein Leben zieht und sich in diesem Fall durch den Abstand zueinander bemerkbar macht.

Das Tragen eines Mundschutzes, um uns und andere in näherer Umgebung nicht zu gefährden, ist dann nur eine Kleinigkeit, die es zu beachten gilt. Daran gewöhnt sich jeder relativ schnell daran – doch der Abstand bleibt.

Das Gute ist nur, dass es nicht allein meinen Riss ist, den ich fühle, sondern der von tausend anderen Leuten ebenfalls.

Auch meine Freundin Julia habe ich deswegen lange nicht mehr gesehen und freue mich deshalb sehr, dass sie als Unterstützung für mich mitkommt. Wir beide kennen uns bereits, seitdem ich das erste Mal in die Klasse damals

gekommen bin und kein Wort Deutsch sprach. Sie konnte mich von Anfang an am besten verstehen, wie es sich anfühlt eine Familie zu vermissen. Sie hatte ihre nämlich auch verloren – bei einem Autounfall. Seitdem stecken wir zusammen und sind füreinander da.


Nun, da sie neben mir sitzt, fühle ich mich schon ruhiger. Aber ich bin auch traurig, weil wir beide uns nach diesem Sommer trennen werden.

Sie zieht in den Norden, mit dem Ziel Schauspielerin zu werden und ich werde hierbleiben und Architektur studieren. Für uns beide würde es diesen Herbst losgehen – getrennt voneinander, mit neuem Mut unserem Ziel entgegen.

Natürlich können wir uns besuchen, weiterhin füreinander da sein und miteinander telefonieren, aber es ist natürlich nicht dasselbe. Ein wenig Übung hatten wir glücklicherweise durch die letzten zwei Monate bekommen, da wir uns durch den Virus nicht live sehen durften. Das dürfte für die erste Eingewöhnung, die wir in der ersten Phase der Trennungszeit vor uns haben wohl reichen.

„Es wird langsam Zeit.“ Julia schaut auf die Uhr und nickt mir zu. Ich hole tief Luft und lächle sie an. Gemeinsam gehen wir auf das Rathaus zu. Ein letztes Mal blicke ich nach oben und erfreue mich an dessen Baukunst und dass es mir heute nun eine große Chance geben würde mein erstes großes Architekturprojekt verwirklichen zu können.

Wer weiß? Vielleicht kann ich irgendwann in der Zukunft in Friedenszeiten meine Heimatstadt wiederaufbauen. So, wie die Deutschen ihre Städte nach dem zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut hatten. Dann kann ich den zerrissenen Seelen dort neue Ideen mithilfe von Plänen und Grundrissen zeigen und so neue Bilder und Freude in ihre Köpfe und Augen zaubern und die Welt neu zusammenbauen.

Ach – bevor ich es noch vergesse: Mein Name ist Amina und ich bin 20 Jahre alt.


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